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Presseartikel
in der Beilage der Volkswacht vom 24.12.1964
Familie
Rödiger war 1953 in die BRD gegangen und kehrte 1964 zurück. Dies wurde
entsprechend in der Presse ausgeschlachtet und die obige Aufnahme gestellt.
Bei den "Weihnachtspäckchen" handelt es sich um leere Kartons.
Die Hermsdorfer ereiferten sich damals, dass man erst in den Westen abhauen
müsse und nach der Rückkehr alles bekäme. Familie Rödiger erhielt aber kein
Haus, sondern zog in das von Gustav Stöbe erbaute Haus.
Text
des Presseartikels
Rückkehr ins Morgen
Heinz Rödigers Irrweg 11 verlorene Jahre - Fremde in einem
anderen Land - Weihnachten endlich wieder in der Heimat.
Ein weiter Weg lag vor ihnen.
Und, obwohl sie an jenem 3. Mai 1953 mit ihrem PKW „Opel-Kadett”
die glatte, wie mit dem Lineal gezogene schnurgerade Fahrbahn der Autobahn
von Hermsdorf nach Berlin benutzten, begann damit für sie ein steiniger;
auswegloser Irrweg, der elf lange Jahre ihres Lebens forderte.
Dieser Irrweg führte in das Gestern. Er dauerte elf unwiederbringlich
verlorene Jahre, Jahre gnadenloser Härte, die sie dennoch reifen ließen,
ihre Erkenntnisse, ihr Bewusstsein formten bis zu der Entscheidung, die
sie neu in das Leben, in das Heute zu treten zwang. |
Sie sprechen nicht gern von den verlorenen elf Jahren
- den 132 Monaten und zwei Tagen - der 49-jährige Bäcker- und Konditormeistermeister
Heinz Rödiger und seine Frau Gisela; die jetzt beide als Schichtarbeiter
in den Keramischen Werken Hermsdorf arbeiten.
Sie blicken lieber nach vorn, sie arbeiten für die lohnende
Zukunft, die neu gewonnen vor ihnen liegt, und für ihre 15-jährige aufgeweckte
Tochter Iris, die schon mit beiden Beinen fest in diesem Leben steht,
es fleißig und lernend gestaltet, weil es ihr hier und jetzt ganz einfach
Spaß und Freude macht.
Ja, Iris. Alles, was du hier der Gesellschaft zu geben bereit bist, wirst
du von ihr wiederbekommen. Und wenn auch noch für euch der große
und sehnliche Wunsch nach einer eigenen Wohnung offen ist – es ist
zu eng in euren vier Wänden, und Großvater schnarcht nachts
so laut –; das bleibt nicht so. Neue Häuser wachsen.
Blickt nach vorn. Es lohnt. Ihr lebt und arbeitet bei
uns. Und dieses Leben und diese Arbeit sind schön und befriedigend. Die
Zukunft liegt nicht düster und hoffnungslos vor euch. Ihr seit wieder
zu Hause. Da wo ihr hingehört.
An jenem 3. Mai 1953 saß Heinz Rödiger am Steuer seines
PKW. Seine Frau Gisela, mit der er damals 6 Jahre verheiratet war, hielt
die kleine 3 jährige Iris im Arm. Gesprochen wurde nicht viel.
Sie hatten alles hinter sich gelassen. Das Geschäft.
Die Arbeit. Die Sorgen. Auch die Freuden. Warum? Es hatte Ärger in
der Familie gegeben. Nun ja, die Schwiegereltern ….
Schwamm darüber. Das sollte vorbei sein. Aber da war doch noch etwas.
Einer hatte ihm gesagt: „Du wirst verhaftet .. Sie wollen
dich einsperren … Hau ab, ehe es zu spät ist …“
Aber das kann doch nicht sein,“ sagte Heinz Rödiger erschrocken
„ich habe nichts ausgefressen. Ich habe meine Arbeit gemacht, wie sich
das gehört. Nein … das kann nicht sein, verhaften, einsperren … Warum?
Wofür?“
„Ich weiß es ganz zuverlässig“, darauf der andere.
Heinz Rödiger sprach mit seiner Frau darüber.
„Sollten wir nicht ganz einfach zur Polizei gehen? Vertrauen haben.
Ehrlich sein?”
Nein, sie hatten kein Vertrauen gehabt. Das hatte den
Ausschlag gegeben. Denn mit der Politik, damit hatte er sich nie beschäftigt.
Für ihn gab es nur die Backstube. 13 bis 15 Stunden am Tage. Früh
aus den Federn, spät todmüde ins Bett. Politik hatte ihn nie
erwärmen können. Er hatte es erlebt, wohin das führte,
die Politik, 1939 bis 1945. Er war Soldat. Krieg, Zerstörung, Leichen,
Tränen und Not. Politik? Was kann der kleine Mann schon machen?
Er wollte nur seine Arbeit und Ruhe. Zeitungen, Radio? Keine Zeit. Was
wusste Heinz Rödiger damals von Westdeutschland? Was kümmerte
es ihn, dass die Hitlergenerale wieder Unheil brütet, was kümmerte
es ihn, wenn er hörte, dort werden die Arbeiter ausgebeu¬tet?
Ihm konnte das ja nicht passieren, er war ja Geschäftsmann. Kriege
oder Frieden? Das war Sache der Politiker, den „kleinen Mann”
ging das nichts an.
Er erkannte nicht, dass solche „Freunde" mit ihren
„Warnungen” nur Werkzeuge in den Händen der alten Feinde des Volkes waren,
um die DDR zu unterhöhlen.Er war müde. Der Ärger. Die Drohung. Er kroch denn „Freund”
auf den Leim. Aus.
In Westberliner Lager Marienfelde geriet er in den Sog
der Menschenhändler. Vernehmung. Er wisse nichts, Wäre nie groß, aus seiner
Backstube herausgekommen ...
Bloß raus aus dem Lager, der einzige Wunsch. Das war deprimierend,
das Lagerleben.
Sie wurden ausgeflogen nach Frankfurt/Main in das Lager Hammelburg. Dann
ging es nach Kulmbach/Oberfranken. Dort gab es Arbeit.
Aber es ging nicht vorwärts. Die Geschäftsmiete schluckte
das meiste. Das war eine andere Welt, die er in Westdeutschland ken¬nen
lernte. Wenig zählte dort ein Mensch. Dort ist sich jeder selbst der nächste.
Er blieb immer ein Fremder in diesem anderen Land, in dem die Devise herrscht:
„Hast du was – dann bist du was.” Denn nicht was der Mensch ist, sondern
was er an Geld und Waren besitzt, das ist der Wertmassstab, nach dem ein
Mensch in Westdeutschland gemessen wird.
Er arbeitete hart. Aber die Vertragsforderungen stiegen.
Von früh bis spät schufteten beide in Laden und Backstube. Was
sie einnahmen, schmolz dahin wie Schnee im Frühling. Die Pacht, die
unerhört hohen Grundstückgebühren - die man ihnen bei Vertragsabschluss,
verschwiegen hatte - fraßen den Verdienst schneller auf, als er
in die Ladenkasse floss.
Und mit einer Wohnung wollte es absolut nicht klappen. Das Leben in der
einen trübseligen Stube fraß an den Nerven.
Fünf Jahre hofften Rödigers, das Glück
in Kulmbach zwingen zu können, später in Bayreuth und Bad Kissingen.
Ein Trugschluss. Es klappte einfach nicht.
Noch schlimmer aber war: Es wollte und wollte ihnen nicht
gelingen, ein freundschaftliches Verhältnis, gutnachbarliche Beziehungen
zu den Einheimischen dort herzustellen. Der „Flüchtling aus
dem Osten” blieb" für sie der „Zuag' roaste”,
der ,.Reingeschmeckte", der „Rucksackdeutsche”, der hereingeschneit,
kam und den Alteingesessenen ganz unerwünschte Konkurrenz machte.
Am unerträglichsten aber war das falsche Mitgefühl mancher
für die armen Fremdlinge, die sich nach den ,.Hungerjahren in der Zone"
nun endlich mal satt essen konnten, die, „vom Zwang befreit”, nun endlich
frei von der Leber weg sprechen durften - wenn es nicht etwa etwas Gutes
über ihre Heimat DDR war. Ein erniedrigendes Gefühl, wie der arme Verwandte
behandelt zu werden, den der reiche Onkel gnädig bei sich aufgenommen
hat.
In dieser Zeit begann das Nachdenken. Was haben wir nur
gemacht, damals? Falsch war das, grundfalsch.
Da waren auch Freunde in der DDR, die anriefen: „Kommt,
zurück!” Da war der Aufruf von Walter Ulbricht an die Bürger der DDR,
die zeitweilig in Westdeutschland leben, zurückzukommen. Da waren die
Gedanken über die DDR klarer und die Lügen- und Hetzgewebe der Kriegstreiber
an Hand der Schule des eigenen Lebens leichter zu durchschauen.
Ja, die haben doch recht, die sagen: Wer sich nicht mit
Politik befasst, der wird von der Politik erfasst. Und Heinz Rödiger wurde
ein anderer.
Am 5. April 1964 fiel ihre Entscheidung. Sie kehrten in
ihre sozialistische Heimat zurück. Nichts geschah ihnen.
Am 5. Mai 1964 verliefen sie das Aufnahmeheim für Übersiedler
und Rückkehrer in Saasa bei Eisenberg. An diesem Tage begann für sie das
neue, bessere und sinnvollere Leben.
Iris, Lehrling im zweiten Lehrjahr, gewählter Klassenaktivleiter,
wird sicher auch dann weiterstreben, wenn sie Fachverkäuferin ist.
„Ich habe viel nachzuholen. Jetzt möchte ich erst einmal
den Abschluss der 10. Klasse erreichen. Hier macht das Lernen Freude,
weil man weiß, wofür man lernt.”
Heinz Rödiger und seine Frau Gisela sind im neuen
Leben und durch ihre Arbeit zufriedene, glückliche Menschen geworden.
Frau Gisela gesteht ehrlich: „Was hätten wir uns alles in diesen
elf Jahren in der DDR schaffen können! Es war die größte
Dummheit, die wir begingen. Aber es ist noch nicht zu spät für
uns, neu zu beginnen. Jetzt' können wir erst wieder wie Menschen
leben!”
„Ich denke heute anders über die Politik. Sie gehört einfach
zur Allgemeinbildung. Ohne sie kann man sich nicht richtig entscheiden.
Heute weiß ich, wohin ich gehöre und was es heißt, Bürger der DDR zu sein”,
so Heinz Rödiger.
Friedensweihnacht 1964. Frohe Menschen, die sie im ersten
deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat feiern. Zu ihnen gehören Heinz,
Gisela und Iris Rödiger aus Hermsdorf, Friedrich-Engels-Strasse 69.
Sie werden Rückschau halten an diesen Tagen der Besinnung
- und sie werden mit neuer Kraft an die Arbeit gehen, die allen nützt
und ihnen selbst zugute kommt.
Ein weiter Irrweg liegt hinter ihnen. Zurück führte der Weg in das Morgen. H. Klimpke |